Hinter dem recht harmlos wirkenden Begriff Locked-In-Syndrom verbirgt sich ein furchtbarer Zustand. Patienten, die an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt sind, verlieren nach und nach die Fähigkeit, ihre Muskulatur zu bewegen. Wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist, dann sind die Patienten zwar bei vollem Bewusstsein, können aber nicht mehr mit der Außenwelt kommunizieren. Diesen Zustand bezeichnet man als Locked-In-Syndrom. ForscherInnen konnten nun ein System entwickeln, dass eine Kommunikation ohne Muskelbewegungen ermöglicht. Dabei messen Elektroden im Gehirn die Hirnsignale und dekodieren sie als „ja“ oder „nein“.


Zwei solcher Mikroelektroden-Arrays wurden dem Patienten in den motorischen Kortex des Gehirns implantiert.
Bild: Wyss Center

Gefangen in den eigenen Gedanken

Bei ALS handelt es sich um eine Krankheit, für die bis heute keine Heilung verfügbar ist. Im Verlauf der Erkrankung degenerieren die Neuronen des motorischen Nervensystems. Das Resultat sind langsam fortschreitende Lähmungen. ALS war zum Beispiel die Krankheit, an der der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking erkrankt war. Hawking allerdings konnte bis zu seinem Tod noch die Muskeln in seinem Gesicht bewegen und einen Sprachcomputer steuern. Patienten mit besonders schnell fortschreitender ALS-Erkrankung finden sich dabei aber möglicherweise letztlich in einem Zustand wieder, in dem sie nicht mal mehr die Muskulatur ihrer Augen bewegen können. Bisherige Systeme zur Kommunikation setzen aber zumindest minimale Muskelbewegungen voraus, sodass diese Patienten dann jegliche Möglichkeit verlieren, mit ihrer Außenwelt zu kommunizieren.

Ein Forschungsteam rund um Ujwal Chaudhary von der ALS Voice gGmbH in Mössingen im Landkreis Tübingen hat ein System entwickelt, das ALS-Patienten die Kommunikation völlig ohne Muskelbewegungen erlaubt. Dieses System wurde auf Anfrage eines Patienten mit einer schnell fortschreitenden Form von ALS entwickelt.


Die ForscherInnen stellten dem Patienten im Rahmen einer klinischen Fallstudie ein System zur Verfügung, mit dessen Hilfe die Hirnsignale gemessen und in die Antworten „ja“ und „nein“ dekodiert werden. „Diese Studie beantwortet eine seit langem bestehende Frage, nämlich ob Menschen mit komplettem Locked-in-Syndrom, bei denen die gesamte willkürliche Muskelkontrolle, einschließlich der Augen- und Mundbewegungen, verloren gegangen ist, auch die Fähigkeit ihres Gehirns verlieren, Befehle für die Kommunikation zu generieren. Erfolgreiche Kommunikation mit Hilfe von BCIs wurde bereits mit bei Menschen mit Lähmungen nachgewiesen. Unseres Wissens nach ist dies jedoch die erste Studie, in der die Kommunikation mit einer Person gelungen ist, die sich nicht mehr willentlich bewegen kann und für die das BCI nun das einzige Kommunikationsmittel ist„, so Jonas Zimmermann vom Wyss Center in Genf, der an der Studie beteiligt war.

Patient kommuniziert wieder mit seiner Familie

Bisher verwendete Hirn-Computer-Schnittstellen sind in der Regel nicht invasiv. Ihre Elektroden werden auf der Kopfhaut befestigt und leiten dort Hirnsignale ab. Allerdings werden diese Signale zu ungenau, sobald ein Patient komplett gelähmt ist. Die ForscherInnen implantierten dem Patienten deshalb kleine Mikroelektroden direkt in den motorischen Kortex des Gehirns. Die Hirnaktivität in diesem Areal ändert sich dann, wenn der Patient sich Bewegungen vorstellt. Anschließend brachte das Team dem Patienten bei, seine Hirnaktivität bewusst zu modulieren, sodass diese von den Elektroden erfasst werden konnten. Inzwischen ist er in der Lage, seine Hirnaktivität so zu steuern, dass ein Computer aus den Signalen der Elektroden die Antworten „ja“ und „nein“ ablesen können. So können auch Wörter und Sätze gebildet werden, indem dem Patienten Buchstaben vorgelesen werden, bis er sich für einen entscheidet. So kann er inzwischen etwa einen Buchstaben in der Minute schreiben.

Das mag zwar nach recht langsamer Kommunikation klingen  – ist es auch – aber dem Patienten gelang so die Kommunikation seiner Bedürfnisse sowie mit seiner Frau und seinem Sohn.

Diese Studie hat auch gezeigt, dass das System unter Einbeziehung der Familie oder des Pflegepersonals im Prinzip auch zu Hause eingesetzt werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt für Menschen mit ALS, die außerhalb des Krankenhauses betreut werden. Diese Technologie, die einem Patienten und seiner Familie in ihrer eigenen Umgebung zugute kommt, ist ein großartiges Beispiel dafür, wie technologische Fortschritte im BCI-Bereich umgesetzt werden können, um direkte Auswirkungen zu erzielen„, so George Kouvas, der mit Zimmermann arbeitet.

Für die Zukunft schwebt den Forschern ein System vor, das Sprache, die in der Vorstellung eines Patienten entsteht, direkt dekodieren und ausgeben kann.

via Wyss Center

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