Die Natur ist manchmal ein ziemlicher Widerspruch: Was uns auf der einen Seite schaden kann, könnte auf der anderen unsere Rettung sein. Tiergifte – also das Zeug, das Schlangen, Spinnen oder Skorpione einsetzen, um ihre Beute zu lähmen oder Fressfeinde abzuwehren – haben bislang eher einen Ruf als Bösewichte der Evolution. Aber jetzt kommt ein ganz neuer Blickwinkel ins Spiel: Forscherinnen und Forscher haben mithilfe von künstlicher Intelligenz herausgefunden, dass genau diese toxischen Mixturen eine bisher unterschätzte Schatzkammer für neue Antibiotika sein könnten. Und das ist nicht weniger als eine kleine Sensation, denn der Kampf gegen multiresistente Keime wird immer verzweifelter – es braucht dringend neue Wirkstoffe, am besten gestern.


Wo die KI hinschaut, wird’s spannend

Normalerweise dauert es Jahre, bis man potenzielle Antibiotika in Laborversuchen identifiziert, synthetisiert und testet. Doch in diesem Fall hat ein speziell entwickeltes KI-System diesen Prozess rasant beschleunigt. Es wurde mit bekannten antimikrobiellen Peptiden – das sind kleine Eiweißmoleküle mit bakterientötender Wirkung – gefüttert und anschließend auf über 50 verschiedene Tiergiftdatenbanken losgelassen. Dabei hat die künstliche Spürnase über 300 Peptide in Schlangen-, Spinnen- und Skorpiongiften entdeckt, die potenziell antibiotisch wirken könnten.


Diese Entdeckung ist gleich in mehrfacher Hinsicht faszinierend. Zum einen zeigt sie, wie leistungsfähig KI mittlerweile in der biomedizinischen Forschung ist – sie analysiert Millionen von Daten in kürzester Zeit, erkennt Muster, wo menschliche Augen scheitern würden, und schlägt vielversprechende Kandidaten vor, die ansonsten vielleicht nie entdeckt worden wären. Zum anderen wird hier eine Ressource erschlossen, die bisher größtenteils ignoriert wurde. Tiergifte gelten traditionell als zu riskant, zu komplex, zu „exotisch“ für die Arzneimittelforschung. Doch genau in dieser biologischen Komplexität scheint ihr Potenzial zu liegen.

Von der Spinne zur Spritze? Noch nicht ganz

Bevor man sich nun ein Schlangengift-Antibiotikum als neue Wunderwaffe in der Hausapotheke vorstellen kann, muss man den Hype etwas einbremsen. Die gefundenen Peptide sind erstmal nur potenzielle Kandidaten. Sie müssen noch im Labor getestet werden – auf ihre Wirksamkeit, auf ihre Stabilität im menschlichen Körper, auf mögliche Nebenwirkungen. Und auch, ob sie gezielt gegen resistente Bakterien wirken oder am Ende doch eher Zellgifte ohne therapeutischen Nutzen sind.

Die ersten Tests machen aber Hoffnung: Ein Team an der University of Pennsylvania hat einige der Peptide bereits synthetisch hergestellt und gegen sogenannte „Superbugs“ getestet, also Bakterien, die gegen viele gängige Antibiotika resistent sind. Manche dieser synthetischen Peptide konnten tatsächlich das Wachstum der Keime hemmen. Das ist ein vielversprechender Anfang, aber von der Laborschale zum zugelassenen Medikament ist es ein langer Weg mit vielen Hürden – da hilft auch die schnellste KI der Welt nicht weiter. Aber sie hat immerhin das Tor zu einer völlig neuen Wirkstoffquelle aufgestoßen.

Ein Schatz mit Zähnen, Klauen und Giftstacheln

Warum ausgerechnet Gifte? Weil sie evolutionär genau dafür gemacht sind, biologische Prozesse extrem effizient und gezielt zu beeinflussen – eben auch, um Mikroorganismen zu zerstören. Tiergifte enthalten oft Dutzende, manchmal Hunderte verschiedener Moleküle, darunter auch Peptide, die Zellmembranen angreifen, Enzyme blockieren oder Signalketten lahmlegen können. Was für eine Maus oder ein Insekt tödlich ist, kann in kleiner Dosis für uns ein medizinischer Wirkstoff sein. Diese „natürliche Biochemie“ ist unglaublich vielfältig – und wurde bislang nur an der Oberfläche angekratzt.

Die neue KI-gestützte Suche öffnet also nicht nur eine Tür, sondern gleich ein ganzes Scheunentor zu einem chemischen Kosmos, der bislang im Schatten lag. Und sie stellt ein Versprechen in den Raum: Dass wir vielleicht ausgerechnet in den Waffenarsenalen der Natur – in Fangzähnen, Giftstacheln und Spinnendrüsen – Antworten auf eines der drängendsten Gesundheitsprobleme unserer Zeit finden. Natürlich ist das kein Freifahrtschein für eine Zukunft ohne Antibiotikaresistenzen. Aber es ist ein Schritt – und zwar ein großer – in eine Richtung, in der Hightech und Natur zusammenarbeiten, um den nächsten Durchbruch zu schaffen.

via Penn Medicine

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