Das Klimasystem der Erde ist ein empfindliches Geflecht, in dem Veränderungen an einem Ort weitreichende Folgen an anderer Stelle auslösen können. Besonders kritisch sind dabei sogenannte Kippelemente – Komponenten, die ab einem bestimmten Punkt plötzlich und unumkehrbar in einen neuen Zustand übergehen können. Eine aktuelle Untersuchung zeigt nun, dass vier dieser zentralen Kippelemente deutliche Anzeichen wachsender Instabilität zeigen. Forscher:innen warnen, dass sich diese Entwicklungen gegenseitig verstärken könnten – mit potenziell gravierenden Auswirkungen auf das globale Klima. Wie Kipppunkte das Gleichgewicht des Klimas bestimmen Kippelemente sind großskalige Bestandteile des Erdsystems, die auf langsame Veränderungen lange stabil reagieren, aber ab einem bestimmten Schwellenwert abrupt kippen. Solche Übergänge können durch Rückkopplungen selbstverstärkt und damit unumkehrbar werden. In der aktuellen Studie wurden Beobachtungsdaten aus den vergangenen Jahrzehnten genutzt, um Anzeichen schwindender Stabilität bei mehreren dieser Elemente zu erkennen. Das zentrale Konzept dabei lautet „Verlust an Resilienz“: Wenn ein System nach einer Störung immer länger braucht, um sich wieder zu erholen, gilt das als Warnsignal dafür, dass es sich einem Kipppunkt nähert. Dieses Muster lässt sich inzwischen in mehreren klimarelevanten Regionen beobachten. Die Daten deuten darauf hin, dass wichtige Komponenten wie der grönländische Eisschild, die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC), der Amazonas-Regenwald und das südamerikanische Monsunsystem zunehmend anfälliger für Veränderungen werden. „Wir haben überzeugende beobachtungsbasierte Belege dafür, dass mehrere miteinander verbundene Teile des Erdsystems sich destabilisieren“, erklärt Studienleiter Niklas Boers von der Technischen Universität München. Vier gefährdete Systeme und ihre gegenseitige Abhängigkeit Besonders auffällig ist der Zustand des grönländischen Eisschilds, der durch steigende Temperaturen massiv an Masse verliert. Das Abschmelzen reduziert die Rückstrahlung des Sonnenlichts, wodurch sich die Oberfläche weiter erwärmt – ein klassischer Rückkopplungseffekt. Auch die Atlantische Umwälzzirkulation, die warmes Wasser aus den Tropen nach Norden transportiert, zeigt Anzeichen von Schwächung. Sie wird durch Süßwasserzufluss aus dem schmelzenden Eis und veränderte Niederschläge beeinträchtigt, was die Dichteunterschiede im Ozean und damit den Motor dieser Zirkulation stört. Im Amazonasbecken bedrohen eine Kombination aus Abholzung und steigenden Temperaturen das Gleichgewicht des größten Regenwaldsystems der Erde. Trocknet der Wald zu stark aus, fällt weniger Regen – ein Kreislauf, der im Extremfall zum Übergang in eine Savannenlandschaft führen könnte. Auch das südamerikanische Monsunsystem hängt eng mit der Feuchtigkeitsregulierung des Amazonas zusammen. Wird dieser Kreislauf gestört, verändert sich der gesamte Niederschlagsrhythmus der Region. In allen vier Fällen beobachteten die Forscher:innen, dass die Systeme langsamer auf äußere Einflüsse reagieren – ein Hinweis darauf, dass sie ihre Stabilität verlieren. Kippelemente bedingen sich gegenseitig Besonders beunruhigend ist die Erkenntnis, dass diese Kippelemente nicht unabhängig voneinander existieren. Über atmosphärische und ozeanische Prozesse stehen sie in engem Austausch. Kippen einzelne Systeme, können sie Rückkopplungen erzeugen, die andere mitreißen – ein Dominoeffekt, der das gesamte Klimasystem in eine neue, weniger stabile Phase überführen könnte. Die Autor:innen der Studie sprechen von einer möglichen „Kaskade von Kipppunkten“, die abrupt und irreversibel verlaufen könnte. Wie nah die Erde diesen Schwellen tatsächlich ist, lässt sich bisher nur schwer abschätzen. Sicher ist jedoch, dass jede weitere Erwärmung das Risiko erhöht, dass solche Punkte überschritten werden. „Mit jedem Zehntel Grad zusätzlicher Erwärmung steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Kipppunkt zu überschreiten“, heißt es in der Untersuchung. Diese Erkenntnis verleiht der Forderung nach drastischer Emissionsreduktion neue Dringlichkeit. Gleichzeitig plädieren die Forscher:innen für den Aufbau eines globalen Überwachungssystems, das mithilfe von Satelliten, Messstationen und maschinellem Lernen frühzeitig Veränderungen im Verhalten der Kippelemente erkennen könnte. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Stabilität des Erdsystems kein abstraktes Konzept ist, sondern bereits messbar abnimmt. Kippelemente, die lange als theoretische Warnsignale galten, zeigen reale Anzeichen der Destabilisierung. Was früher als ferne Möglichkeit galt, wird zunehmend zu einer messbaren Realität – und stellt die Klimapolitik vor eine ihrer größten Herausforderungen. via TU München Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter