Ein Team der Universitätsmedizin Frankfurt und des Universitätsklinikums Münster berichtet von einem ersten erfolgreichen Einsatz tiefer Hirnstimulation zur Linderung eines schweren Entwicklungsstotterns. In einem dokumentierten Fall verbesserte sich der Redefluss eines Patienten nach Implantation einer Elektrode im linken Thalamus und anschließender Aktivierung der Stimulation deutlich; die beteiligten Forscher:innen planen nun kontrollierte Studien, um die Beobachtung an weiteren Betroffenen zu prüfen. Symbolbild Stimulation greift ins neuronale Sprechnetz ein Die verwendete Methode ähnelt Ansätzen, die bereits bei anderen Erkrankungen eingesetzt werden: Feine Elektroden werden in tiefere Hirnregionen eingebracht und geben dort schwache elektrische Impulse ab, um lokale und übergeordnete Aktivitätsmuster zu beeinflussen. Zielregion in dem beschriebenen Fall war der linke Thalamus, eine Schaltstelle, die unter anderem Verbindungen zwischen Hör- und motorischen Spracharealen vermittelt. Bei vielen Menschen mit Stottern scheint die Koordination dieser Netzwerke gestört: Die linke Hemisphäre verarbeitet schnelle Folgen von Sprachsignalen schlechter, sodass Funktionen an die rechte Hemisphäre ausgelagert werden, die mit den zeitlich dicht aufeinanderfolgenden Signalen weniger effektiv umgeht. Durch die elektrische Modulation soll der Informationsfluss stabilisiert und die Synchronisation zwischen den relevanten Arealen verbessert werden. Nach Aktivierung der Stimulation verringerte sich die Häufigkeit der Stotterereignisse über mehrere Monate signifikant; die berichtete Reduktion lag im mittleren Bereich, außerdem wurden die Episoden insgesamt weniger intensiv. Anders als bei manchen Bewegungsstörungen, wo eine Ein- oder Ausschaltung der Stimulation sofort sichtbare Effekte hervorruft, zeigte sich beim Sprechen ein verzögertes und nicht vollständig reversibles Verhalten: Ein Abschalten der Impulse führte nicht unmittelbar zu einem Rückfall auf das Ausgangsniveau, vielmehr war der Verlauf langsamer. Die Forschenden deuten dies so, dass neben der unmittelbaren neuronalen Modulation Lernprozesse eine Rolle spielen — die Erfahrung flüssiger Sprache unter Stimulation könnte dem Gehirn neue funktionale Wege eröffnet haben, die auch ohne permanente Impulsgebung teilweise erhalten blieben. In den Worten einer der beteiligten Wissenschaftler:innen hat der Patient durch die veränderte Erfahrung „Wegfindungen“ etabliert, die das Stottern vermindern. Noch keine generelle Behandlungsmethode für Stottern Der Fall eröffnet die Perspektive, Stottern konsequenter als Folge veränderter Netzwerkdynamik im Gehirn zu verstehen und gezielt zu beeinflussen. Dennoch handelt es sich bisher um eine Einzelfallbeobachtung, die keine allgemeinen Therapieempfehlungen erlaubt. Klinische Studien mit mehreren Teilnehmer:innen sind nötig, um Wirksamkeit, optimale Zielregionen, Stimulationsparameter und mögliche Prädiktoren für den Behandlungserfolg systematisch zu untersuchen. Gleichzeitig sind die mit einem stereotaktischen Eingriff verbundenen Risiken nicht zu verkennen: Jede Hirnoperation kann Blutungen, Infektionen oder funktionelle Ausfälle nach sich ziehen; außerdem sind neben lokalen Schäden auch unerwünschte Nebenwirkungen durch die Stimulation möglich, etwa Veränderungen in Wahrnehmung oder motorischer Kontrolle, abhängig von der genauen Lage der Elektroden. Diese Risiken müssen gegen den individuellen Leidensdruck und gegen Alternativen, einschließlich nichtinvasiver Methoden, abgewogen werden. Für Betroffene stellt sich damit eine komplexe Abwägung: In Fällen mit stark einschränkendem Stottern mag ein invasiver Eingriff gerechtfertigt erscheinen, wenn dadurch die Lebensqualität deutlich steigt; in anderen Fällen dürften konservative oder nichtinvasive Therapien vorzuziehen sein. Entscheidend wird sein, in klinischen Studien klare Einschlusskriterien, standardisierte Outcome-Maße und Langzeitbeobachtungen zu etablieren, damit sich belastbare Aussagen zur Stabilität eines möglichen Behandlungserfolgs treffen lassen. Fazit Der beschriebene Pilotversuch ist ein vielversprechender wissenschaftlicher Prototyp, der zeigt, dass Stottern nicht allein psychologisch, sondern als Ausdruck veränderter neuronaler Netzwerke angegangen werden kann. Ob daraus eine breite, sichere Therapieoption wird, hängt von den Ergebnissen künftig durchgeführter, sorgfältig kontrollierter Studien ab. Bis dahin bleibt der Befund ein Anlass zur Hoffnung, aber ebenso zu Vorsicht: Mögliches therapeutisches Potenzial steht verantwortungsbewusster Prüfung und individueller Risikoabwägung gegenüber. via Goethe-Universität Frankfurt am Main Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter