Der Wunsch, Bild- und Textinformationen nicht nur visuell, sondern auch fühlbar darzustellen, begleitet technisch orientierte Forscher:innen seit Jahrzehnten. Zuletzt ist ein interessanter Ansatz ins Rampenlicht gerückt, der Bildpixel zu „taktilen Pixeln“ macht – ein Konzept, das sowohl für barrierefreie Brailledisplays als auch für allgemeinere haptische Anzeigen relevant ist. Die Idee: flache Displays werden zu fühlbaren Oberflächen, auf denen sich Punkte je nach Bildinhalt erheben oder senken lassen. Bild: Ronald H. Heisser „Fühlbare“ Pixel dank winziger Explosionen Ein Team von Forscher:innen an der Cornell University hat einen neuartigen Mechanismus entwickelt, bei dem winzige, gezielte Mikroexplosionen in weichen Materialien – genauer: in elastischen Membranen aus Silikon – als Erreger für taktile Punkte dienen. In jedem Pixelkanal befindet sich eine Kammer, die mit einem Gemisch aus Brennstoff und Oxidationsmittel gefüllt ist. Wird eine Zündung ausgelöst, dehnt sich das Gasvolumen kurzfristig aus und kehrt eine flexible Membran um – sie bildet eine kuppelförmige Erhebung. Diese domartige Struktur bleibt stabil, bis ein Unterdruck sie wieder zurückzieht. Das System schafft so eine bistabile Struktur: erhabene Punkte halten ihre Form ohne ständige Energiezufuhr. In Tests reagierte die Membran in nur etwa 0,24 Millisekunden. Ein entscheidender Vorteil dieser Lösung gegenüber herkömmlichen elektromechanischen Displays besteht in der Reduktion mechanischer Komponenten. Viele bestehende Brailledisplays verwenden für jeden Punkt einzelne Aktuatoren, Ventile oder Pumpen, was komplex, wartungsanfällig und teuer ist. Die neue Methode integriert die Kontrolle direkt in das Material, ohne äußere bewegliche Teile. Damit lässt sich ein hermetisch abgedichtetes System realisieren, das weniger anfällig für Staub, Flüssigkeiten oder mechanisches Versagen ist. Eine verwandte, früher vorgestellte Idee besteht darin, ein „taktiles Display“ zu schaffen, das Bildpixel fühlbar macht: Bei Aktivierung ragen bestimmte Pixel als fühlbare Punkte heraus. Damit können Helligkeitsabstufungen oder grafische Formen nicht nur gesehen, sondern auch ertastet werden. In einem populärwissenschaftlichen Bericht hieß es dazu: „Neuartiger Bildschirm macht Bildinformationen sichtbar und ertastbar zugleich.“ In dieser Variante reicht ein mechanisches System, das je nach Bildintensität eine Membran stärker oder schwächer herausdrückt. Die Herausforderung dort liegt ebenfalls in Zuverlässigkeit, Skalierbarkeit und Geschwindigkeit. Noch sind viele Punkte unklar Das neue mikroexplosive Konzept öffnet interessante Perspektiven nicht nur für Brailleschreiber:innen, sondern auch für allgemeinere taktile Interfaces. Weil die einzelnen Punkte nur minimale bewegliche Teile aufweisen und in Gummiblöcken eingebettet sind, lässt sich das System robust gestalten. Die Silikonmembranen können in größeren Flächen integriert und teilbar ausgeführt werden, wodurch ein Display mit mehreren Zeilen und hoher Auflösung denkbar wird. In Demonstratoren wurden bereits 10×10-Arrays getestet, in denen Punkte selektiv aktiviert werden können. Bei dem als „Holy Braille“ bezeichneten Problem – also der Herausforderung, ein zuverlässiges, erschwingliches und langlebiges Brailledisplay für viele Nutzer:innen bereitzustellen – könnte dieser Ansatz eine Lösung bieten. Wie Rob Shepherd, der leitende Ingenieur an der Arbeit, formulierte: „Sehr kleine Mengen von brennbarem Treibstoff erlauben uns, hohen Druck für taktiles Feedback zu erzeugen, ohne komplexe Ventile.“ Und weiter: „This chemical and thermal approach to tactile feedback solves the long-standing ‘Holy Braille’ challenge.“ Doch bei aller Faszination: Es gibt technische und praktische Hürden. Die Lebensdauer der Treibstoffkammern über viele Zyklen hinweg, die sichere Lagerung der Brennstoffe – etwa in portablen Geräten – und die Integration in bestehende Steuerelektronik müssen gelöst werden. Auch Fragen der Sicherheit und Zulassung könnten relevant werden: Obwohl die Verbrennungsreaktionen exakt kontrolliert und abgeschirmt sind, kann der Begriff „Explosion“ bei Verbraucherprodukten skeptische Reaktionen hervorrufen. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die erzeugten Temperaturen, Gase oder Druckspitzen niemals in den Bereich gelangen, in dem Materialschäden oder Risiken für Nutzer:innen auftreten. Ein weiterer Aspekt ist die Energieeffizienz: Obwohl das System im Ruhezustand keine Energie benötigt (die Punkte bleiben selbstständig erhoben), wird zum Umschalten – Zündung oder Rückführung – jeweils Energie benötigt. Die Gestaltung dieser Impulse und ihre Optimierung hinsichtlich Verbrauch, Schnelligkeit und Wiederholbarkeit ist eine zentrale Aufgabe. Schließlich muss die Technologie mit konventionellen Display- und Steuertechniken kompatibel sein, um in Alltagsgeräte integriert zu werden. Fortschritt nicht nur für blinde Menschen Wenn sich der Ansatz weiterentwickelt, eröffnen sich Anwendungsfelder weit über Blindengeräte hinaus. In Touchscreens von öffentlichen Kiosken oder Fahrkartenautomaten könnte man taktiles Feedback in Echtzeit erzeugen, das Schreiben von taktilen Karten oder Grafiken würde denkbarer. In Virtual- und Augmented-Reality-Umgebungen könnten Fingeroberflächen nicht nur vibrieren, sondern fühlbare Strukturen bilden – etwa Kanten, Texturen oder Objekte. In der Robotik und Teleoperation könnte eine Rückmeldung über fühlbare Elemente das präzise Greifen oder Bedienen unterstützen. Für Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit wäre ein erschwinglicher, robust funktionierender Brailledisplayschreiber ein großer Fortschritt. Viele existierende Geräte sind teuer, langsam oder empfindlich gegenüber Umgebungseinflüssen. Die mikroexplosive Methode wirkt vielversprechend, da sie mechanische Komplexität minimiert und potenziell skalierbar ist. Allerdings stehen die Forscher:innen noch am Anfang. Ob Brennstoffstabilität, Langzeitnutzung, Sicherheitsaspekte und Miniaturisierung bis in alltagstaugliche Geräte gelingen, bleibt offen. Doch die Kombination aus weichen Materialien und kontrollierter chemischer Energie liefert einen frischen Denkansatz für taktile Anzeigen. Sollte sich dieser Ansatz durchsetzen, könnte er die Art und Weise verändern, wie Bildinformationen fühlbar gemacht werden – und taktile Interfaces von einer Idee zur breiten Realität werden lassen. via Cornell University Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter