Das menschliche Gehirn gilt als eines der komplexesten Gebilde der Natur – und zugleich als eine der größten Herausforderungen für die Medizin. Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Epilepsie sind schwer zu behandeln, weil die empfindlichen neuronalen Netzwerke tief im Schädel verborgen liegen. Um dort gezielt einzugreifen, müssen bislang riskante Operationen durchgeführt oder großflächige Medikamente eingesetzt werden, die häufig Nebenwirkungen haben. Doch Forscher:innen suchen seit Jahren nach Wegen, die Barriere zwischen Technik und Biologie zu überwinden – mit immer ausgefeilteren Schnittstellen zwischen Elektronik und Nervenzellen. Nun ist es einem Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gelungen, einen solchen Ansatz entscheidend weiterzuentwickeln: Sie haben mikroskopische, drahtlose elektronische Geräte entwickelt, die über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen und dort gezielt Nervenzellen stimulieren können – ganz ohne chirurgischen Eingriff. Bild: MIT Winzige elektronische Chips statt Operation Die Technologie, bezeichnet als „circulatronics“, basiert auf winzigen elektronischen Chips (englisch: SWEDs, sub-cellular wireless electronic devices), die etwa die Größe eines Blutzellkörpers besitzen. Diese Chips bestehen aus organischen Halbleiterschichten, die zwischen metallischen Lagen eingebettet sind, und sind so konstruiert, dass sie drahtlos Energie aufnehmen können, beispielsweise über nahe-infrarotes Licht, welches durch Schädel und Gewebe hindurch wirken kann. Ein wesentlicher Schritt in diesem Verfahren besteht darin, dass die Chips mit lebenden Immun-Zellen – in diesem Fall Monozyten – zu einem Zell-Elektronik-Hybrid verschmolzen werden. Diese Hybridstruktur kann dann das Gehirn-Barriere-System (blood-brain barrier) überwinden und sich gezielt in entzündeten Hirnregionen ansiedeln, die bei vielen neurologischen Erkrankungen eine Rolle spielen. In einem Tierversuch mit Mäusen zeigte sich, dass nach einer Injektion in die Blutbahn die Hybridstrukturen innerhalb von etwa 72 Stunden im Zielgebiet ankamen. Anschließend ließ sich durch externe Nah-Infrarot-Stimulation eine hochpräzise Aktivierung von Gehirnzellen nachweisen – etwa über das Aktivitätsmarker-Protein c-Fos. Die Forscher:in Deblina Sarkar fasst die Innovation wie folgt zusammen: „Our cell-electronics hybrid fuses the versatility of electronics with the biological transport and biochemical sensing prowess of living cells.“ Damit wird eine neuartige Form der Hirn-Implantation möglich – ohne Skalpell und ohne klassische chirurgische Operation. Technologie mit immensem Potential Das Potenzial dieser Technologie ist enorm: Viele bisher schwer oder nur riskant behandelbare neurologische Erkrankungen könnten davon profitieren. So nennen die Entwickler:innen unter anderem das Spektrum von Alzheimer-Erkrankungen über Multiple Sklerose bis hin zu Hirntumoren. Im Falle von Tumoren, die in tiefen oder schwer zugänglichen Regionen des Gehirns liegen, sei der chirurgische Ansatz oft mit hohen Risiken verbunden – hier könnte eine injizierbare Alternative den Zugang erleichtern. Auch das Argument der Zugänglichkeit spielt eine Rolle. Da weltweit Milliarden von Menschen von neurologischen Erkrankungen betroffen sind, aber nicht immer operative Neurosysteme zur Verfügung stehen, könnte eine nicht-operative Lösung dazu beitragen, Therapien global breiter zu ermöglichen. Dennoch stehen bedeutende Herausforderungen im Raum. Die Tierversuche zeigen zwar Machbarkeit, aber der Sprung zu klinischen Studien bei Menschen ist noch nicht vollzogen. Biokompatibilität, Langzeitstabilität der Geräte, sichere Steuerung der elektrischen Stimulation und mögliche Immunreaktionen sind Fragen, die weiter bearbeitet werden müssen. Darüber hinaus gilt es, ethische und regulatorische Aspekte zu klären – etwa in Bezug auf Kontrolle, Datenschutz und mögliche Nebenwirkungen. In der Mitteilung wird angegeben, dass eine klinische Prüfung innerhalb von drei Jahren angepeilt wird. Ein weiterer Aspekt betrifft die Zielgenauigkeit: Im Experiment wurden aktive Gehirnzellen innerhalb eines Bereichs von rund 30 µm um die Zielregion gefunden – das ist beeindruckend feindosiert. Ob sich diese Präzision unter klinischen Bedingungen mit variabler Geometrie menschlicher Gehirne reproduzieren lässt, ist offen. Es braucht eine Diskussion über die ethischen Rahmenbedingungen Wenn sich diese Technologie etabliert, könnte sich das Bild neurologischer Therapien grundlegend ändern. Statt großer OP-Eingriffe mit erhöhtem Risiko könnten minimalinvasive Injektionen und anschließende drahtlose Stimulation von Nervenzellen Realität werden. Dies wirft jedoch auch Fragen auf: Wer steuert die Stimulation? Wie wird sichergestellt, dass die Technologie nicht für unerwünschte Zwecke verwendet wird? Welche sozialen oder gesundheitlichen Ungleichheiten könnten dadurch entstehen? Die Forscher:innen sehen „eine Plattformtechnologie, die nicht nur aufs Gehirn begrenzt ist, sondern auch auf andere Organe ausgeweitet werden könnte.“ Denkbar sind etwa kabellose Herzschrittmacher oder Stimulatoren in anderen Teilen des Nervensystems. Im Kern steht eine Verschiebung vom klassischen medizinischen Eingriff hin zu einer biotechnologischen Symbiose aus lebenden Zellen und Elektronik. Dabei bleibt offen, wie schnell sich solche Verfahren in den klinischen Alltag integrieren lassen. Bis dahin gilt es, die technologischen, ethischen und regulatorischen Rahmenbedingungen sorgfältig zu gestalten. via MIT Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter