Ein Forschungsteam der Medizinischen Universität Wien hat kürzlich einen vielversprechenden Bluttest vorgestellt, mit dem sich das Risiko für Multiple Sklerose (MS) bereits Jahre vor dem Auftreten erster Symptome mit hoher Genauigkeit erkennen lässt. Der Test basiert auf einem immunologischen Verfahren zur Erkennung bestimmter Antikörper nach einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), einem Virus, das bei nahezu allen MS-Fällen nachweisbar ist. Solch eine Diagnosemethode könnte entscheidend dazu beitragen, dass gefährdete Menschen frühzeitig ärztlich überwacht oder medizinisch behandelt werden – mit dem Ziel, den Krankheitsausbruch zu verzögern oder möglicherweise sogar zu verhindern.


Wie funktioniert der neue Bluttest?

Der neu entwickelte Test zielt auf sogenannte Autoantikörper ab. Das sind Antikörper, die nicht nur gegen das Epstein-Barr-Virusprotein EBNA-1 binden, sondern in einigen Fällen auch körpereigene Strukturen angreifen. Der Test erkennt insbesondere Antikörper, die gegen einen bestimmten Abschnitt dieses Proteins gerichtet sind und lange vor klinischen Symptomen auftreten können. Diese Antikörper lassen sich bereits neun Monate bis drei Jahre nach einer EBV-Infektion nachweisen – im Mittel etwa 5,4 Jahre vor dem Beginn der ersten MS-Symptome, bei manchen Menschen sogar bis zu zwölf Jahre im Voraus.


In der Studie wurden Blutproben von über 700 MS-Patientinnen und -Patienten und knapp 5.400 Kontrollpersonen retrospektiv untersucht. Besonders auffällig war: Wenn diese Autoantikörper an mindestens zwei Messzeitpunkten nachweisbar waren, stieg die Wahrscheinlichkeit für eine spätere MS-Diagnose deutlich. In einer Subgruppe ließ sich sogar der Zeitpunkt der Erstinfektion mit EBV rekonstruieren – dort korrelierte ein dauerhaft hoher Antikörperspiegel mit einem besonders schnellen und hohen Krankheitsrisiko.

Bedeutung für Diagnose und mögliche Therapie

Bisher war eine Früherkennung von MS – vor dem Auftreten neurologischer Schäden – kaum möglich. Übliche Biomarker wie Neurofilament Light Chain (NfL) oder Glial Fibrillary Acidic Protein (GFAP) zeigen sich meist erst in einem späteren Krankheitsstadium, wenn bereits Nervenzellschäden sichtbar sind. Im Gegensatz dazu bietet der neue Antikörpertest die Chance, frühzeitige immunologische Hinweise auf eine sich entwickelnde MS zu erkennen und das individuelle Risiko zu quantifizieren.

Da weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen von MS betroffen sind und nahezu alle Menschen im Laufe ihres Lebens mit EBV infiziert werden (etwa 90–95 Prozent), besteht hierbei ein großes Potenzial: Vor allem jene, die in der Vergangenheit eine infektiöse Mononukleose (Pfeiffer’sches Drüsenfieber) hatten, könnten gezielt untersucht werden. Auch eine flächendeckende Risikostreuung oder ein Screening bestimmter Gruppen wäre denkbar.

Ein mögliches Szenario: Menschen mit nachgewiesenen Autoantikörpern könnten regelmäßig überwacht werden oder frühzeitig Therapien erhalten, lange bevor klinische Symptome auftreten. Auf diese Weise könnte ein späterer Krankheitsausbruch verzögert oder vielleicht verhindert werden – ein Ansatz, der in seiner Konsequenz MS nicht nur symptomatisch behandelt, sondern prophylaktisch angegangen würde.

Ausblick, Herausforderungen und offene Fragen

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse gibt es noch mehrere wichtige Hürden: Der Test wurde bislang nur retrospektiv an früher erhobenen Blutproben untersucht. Um ihn in die klinische Praxis zu überführen, sind prospektive Studien mit größeren und repräsentativen Gruppen notwendig – inklusive langfristiger Beobachtung und Überprüfung, ob frühzeitige Interventionen tatsächlich den Krankheitsverlauf ändern.

Auch die quantitative Genauigkeit muss weiter validiert werden: Welcher Antikörperspiegel ist bedeutsam, ab welcher Dauer und Konzentration erhöht sich das Risiko signifikant? Und wie verhält sich der Test im Vergleich zu anderen aufkommenden Biomarkern oder Bildgebungsverfahren? Schließlich könnten etwa miRNA-Profile, neurofaser-assoziierte Proteine oder Netzhautschichtanalysen zukünftig ergänzende Hinweise liefern.

Ein häufig genannter Kurzzeit-Biomarker ist die Serum-Neurofilament Light Chain (sNfL), deren Spiegel bis zu einem Jahr vor einem MS-Schub ansteigen können. Dabei zeigt sich, dass sNfL gut geeignet ist, bereits bestehende oder unmittelbar bevorstehende Nervenschädigungen zu erkennen. Allerdings liefert sNfL keine Langzeit-Prognose, wie sie der EBV-Antikörpertest ermöglichen könnte.

Aus Sicht der Forschung steht mit diesem Ansatz ein möglicher Paradigmenwechsel bevor: Weg von der symptomorientierten Diagnostik hin zu einem präventiven Ansatz, der gefährdete Menschen rechtzeitig identifiziert. Damit eröffnen sich neue Chancen – doch auch neue Fragen in Bezug auf Ethik, Kosten, Screeningmethoden und den Umgang mit Risikopersonen. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob dieser Bluttest tatsächlich den klinischen Alltag erreicht und damit den medizinischen Umgang mit MS nachhaltig verändert.

 

via Medizinische Universität Wien

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