Indien und China sind die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Beide Staaten verfügen zudem über ein ansehnliches Arsenal an Atomwaffen und ringen um die Vorherrschaft in Südostasien. Besonders brisant ist dies, weil es zudem auch eine mehrere tausend Kilometer lange gemeinsame Grenze gibt. Wo genau diese allerdings verläuft, ist umstritten. Im Jahr 1962 brach über diese Frage ein kurzer und heftiger militärischer Konflikt aus. Dieser endete mit einem militärischen Sieg Chinas. Politisch allerdings veränderte sich nicht besonders viel. Beide Seiten einigten sich auf eine sogenannte „Line of Actual Control“, die bis heute Bestand hat. Ein formeller Vertrag, der diesen Grenzverlauf festschreiben würde, wurde allerdings nicht unterzeichnet. Genau dies wird nun zum Problem. Foto: Alexander Trisko Indien wehrt sich gegen den Einfluss der chinesischen Wirtschaft Denn der wirtschaftliche und politische Konkurrenzkampf hat das Misstrauen zwischen den beiden Atommächten ansteigen lassen. So ergriff man in Indien eine ganze Reihe an protektionistischen Maßnahmen gegen chinesische Firmen. Beispielsweise wurde es diesen erschwert, indische Unternehmen aufzukaufen, die aufgrund der Corona-Krise aktuell recht günstig zu haben gewesen wären. Außerdem verbot die indische Regierung mehr als einhundert chinesische Apps – darunter auch das populäre soziale Netzwerk TikTok. Die Beziehungen beider Länder verschlechterten sich dadurch weiter. Dies wiederum führte in der Grenzregion zu neuen Spannungen. Denn dort begann die indische Armee im Galwan-Tal mit dem Bau von Straßen. Da es sich um eine eher unwirtschaftliche Region handelt, konnte dies eigentlich nur militärischen Zwecken dienen. Das Tabu des Schusswaffengebrauchs ist schon gefallen Auf der anderen Seite gibt es auch Berichte, dass die chinesische Armee versuchte, den Grenzverlauf zu den eigenen Gunsten zu verschieben. Letztlich entluden sich diese Spannungen im Juni dieses Jahres. Indische und chinesische Soldaten gingen mit Knüppeln und Stöcken aufeinander los. Am Ende dieser etwas ungewöhnlichen Schlacht beklagte die indische Armee den Verlust von zwanzig Soldaten. Ministerpräsident Narenda Modi sah sich anschließend gezwungen, zu versprechen, dass diese nicht umsonst gestorben seien. In der vergangenen Woche wiederum wurden erstmals seit mehreren Jahrzehnten Schüsse in der Grenzregion abgegeben. Zwar handelte es sich um Warnschüsse in die Luft. Dennoch stellte dies eine massive Eskalation dar. Denn eigentlich hatten beide Staaten vereinbart, dass die Soldaten im Grenzgebiet auf den Einsatz von Schusswaffen verzichten. China wird immer aggressiver gegenüber den Nachbarstaaten Die Corona-Krise verschlimmert die Situation zudem noch. Denn die chinesische Regierung fühlt sich durch den erfolgreichen Kampf gegen die Infektionskrankheit gestärkt. Außerdem hofft sie, dass die Weltgemeinschaft aktuell mit anderen Themen beschäftigt ist. Die Politik gegenüber umstrittenen Regionen wie Tibet, Hongkong oder Taiwan hat sich daher massiv verschärft. Selbiges gilt für das Auftreten gegenüber den Nachbarländern. Indien hingegen leidet noch immer unter den Folgen der Pandemie und hat weltweit mit die meisten Fälle zu berichten. Die Regierung kann es sich vor diesem Hintergrund nicht erlauben, all zu schwach zu wirken. Wenn aber zwei aufstrebende Mächte aneinander geraten, bei denen die eine Seite nicht zurückstecken möchte und die andere nicht kann, steigt die Gefahr von weiteren militärischen Auseinandersetzungen. NZZ Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter